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Am nächsten Tag blieb Andie im Hotel, während ich Remlikov beschattete. Ich folgte ihm und seinem Sohn den Berg hinunter zum Schachunterricht auf der Hassan Street im Stadtzentrum.
In der Nacht hielt ich sie fest in meinen Armen. Der Anblick dieses Mannes hatte alle Erinnerungen zurückgeholt – den Bus, die Explosion. Jarrod. Ich sah in ihrem Gesicht denselben Schmerz wie am Tag in der Notaufnahme, an dem alles passiert war.
In dieser Nacht lag sie hellwach in der Dunkelheit, obwohl ich dachte, dass sie schlief. Ein- oder zweimal spürte ich, wie sie erschauderte, sich von mir abwandte und ihren Kopf ins Kissen drückte. »Es ist in Ordnung«, flüsterte ich und legte meine Arme um sie, um ihr Kraft zu geben. Doch ich wusste, dass es nicht in Ordnung war. Ich wusste, der Schmerz war wieder aufgebrochen. Dieses Gesicht aus der Vergangenheit hatte alles kompliziert gemacht.
In der nächsten Nacht lag ich kurz vor
Morgengrauen wach im Bett und beobachtete, wie das erste Licht ins
Zimmer drang.
»Weißt du, wie du es anstellen wirst?«, fragte Andie wie aus dem
Nichts.
»Ja.« Ich drehte mich zu ihr.
Ich hatte einen Plan, hatte allerdings Angst, ihn ihr mitzuteilen.
Ich wusste, sie würde ihn nicht gutheißen.
Wir mussten an Remlikov herankommen. Das Problem war, dass er nur
selten das Haus verließ. Ich konnte nicht einfach mit gezückter
Waffe dort hineinplatzen. Wir brauchten Remlikov lebend. Ich
wusste, es gab nur eine Möglichkeit – ein Druckmittel.
Den Jungen.
Uns blieb nichts anderes übrig, aber ich wusste, wie schwierig es
für Andie sein würde. Außerdem brauchte ich ihre Hilfe. Also
erzählte ich ihr, was wir tun mussten – und dass es den jungen
betraf.
»Es wird gefährlich werden«, erklärte ich und stützte mich auf dem
Ellbogen ab.
Ich wusste genau, um was ich sie bat. Der Junge war unschuldig,
genauso wie es Jarrod gewesen war. Aber wir mussten über das, was
Remlikov am meisten liebte, an ihn herankommen – genauso wie er das
von ihr genommen hatte, was sie am meisten geliebt hatte.
»Nick.« Sie schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht
tun.«
»Wir bitten ihn nicht um einen Gefallen, Andie. Wir erzwingen
Informationen von einem Mörder, der uns beide töten könnte. Dies
ist seine einzige verwundbare Stelle. Bevor wir herkamen, habe ich
dir gesagt, wie schwierig es werden wird.«
»Weißt du, um was du mich da bittest? Du bittest mich, einer
anderen Mutter dasselbe anzutun, was mir passiert ist.«
»Ich weiß, worum ich dich bitte, Andie.« Ich streckte meine Hand
nach ihr aus. »Ich bin kein Mörder, Andie. Aber diese Leute sind
es.«
Sie blickte mich an, als glaubte sie, ich wäre zu der gleichen
Gewalt und Bosheit in der Lage wie diejenigen, die ihr den Sohn
weggenommen hatten.
»Ich gebe dir mein Wort: Egal, was passiert, dem Jungen wird kein
Leid zugefügt.«
»O doch, das wird es. Das wird es.«
Ich fuhr mit meiner Hand durch ihr Haar, strich ein paar Strähnen
aus ihrem Gesicht. »Ich brauche dein Ja, Andie. Ich brauche deine
Hilfe, um das zu tun.«
»Und wenn ich nicht ja sage?«
»Dann gehen wir. Wir steigen ins Flugzeug und fliegen wieder nach
Hause. Wir werden Cavello vergessen.«
Andie sog die Luft ein und legte ihre Arme um ihre Knie. »Und wenn
ich ja sage? Was passiert hinterher?«
»Wir lassen den Jungen wieder laufen, Andie. Wir lassen ihn
laufen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich meinte, mit Remlikov. Und dem
Blonden.«
»Ich weiß es nicht.« Ich sagte die Wahrheit.
Sie nickte, und nach einer Weile ließ sie sich in meine Richtung
kippen. »Ihm darf nichts geschehen«, verlangte sie. »Der Junge
…«
»Natürlich nicht.« Ich umarmte sie. »Das verspreche ich.«